„Auf der Suche nach dem Ich“
Bücher, die ins Innere gehen
Den Ausgangspunkt nehme ich von Auf der Suche nach dem Ich. Mit dem Buch Mit Widar Zukunft schaffen haben dieselben Autoren bereits gezeigt, dass sie eigenständige Erkenntnisse und tiefe Erlebnisse schildern können. Auch dieses neue Buch ermutigt den Leser durch das Einleben in die Anthroposophie, selber zu solchen Erfahrungen zu kommen. Das Lesen des Buches wird selbst zu einem Einleben in die Anthroposophie, denn es führt durch zentrale Motive der „Geheimwissenschaft im Umriss“ und schildert anhand einer Darstellung der philosophischen Bücher Rudolf Steiners dessen eigenen Prozess, um seine Wesensglieder zu entwickeln. Hinzu kommt noch eine Schilderung, wie das Ich in Leib und Seele wirkt, die Menschen mit ganz normaler Bildung einen tiefen Einblick in den äußeren und übersinnlichen Leib des Menschen ermöglicht. Dieses Buch ist wirklich hilfreich: Eine Ermutigung, selber an sich zu arbeiten mit viele Anregungen (und Verweisen auf weitere Bücher der Autoren), sich in die angeführten Inhalte zu vertiefen.
Sergej Prokofieff hat nicht nur sehr dicke Bücher veröffentlicht. Hier kann ich gleich zwei Bücher empfehlen, die auf wenigen Seiten hochkonzentrierten Inhalt bieten. Der Einweihungsweg Rudolf Steiners und das Geheimnis des Ich schildert, wie Rudolf Steiner biografisch durchlebt, was er anschließend darstellt als Entstehen des menschlichen Bewusstseins und das Hindurchdringen zum Erleben des übersinnlichen Wesenskerns des Menschen. Das zweite Buch ist eigentlich nur durch eine „Schummelei“ so dünn: Das Rätsel des menschlichen Ich ist der als eigenständiges Buch veröffentlichte Anhang eines „normalen“ Prokofieff-Buchs. Hier entwickelt Sergej Prokofieff die ganze Ich-Organisation in aller Ausführlichkeit mit reichen Querverweisen in das Gesamtwerk Rudolf Steiners (ich besorge euch natürlich gerne all die GA-Bände). Der Titel, aus dem der Anhang stammt, ist allerdings auch sehr wesentlich: Anthroposophie und die ,Philosophie der Freiheit’, die mich zum wiederholten Lesen eben dieser Philosophie der Freiheit gebracht hat. Zur weiteren Vertiefung liegt es nahe, auch den „Nachtrag zu dem Buch „Anthroposophie und die ,Philosophie der Freiheit’“ (S. Prokofieff) zu lesen: Der Hüter der Schwelle und die ,Philosophie der Freiheit’.
Wer sich lieber gleich zu Originaltexten Rudolf Steiners greift, dem möchte ich zwei Kleinode ans Herz legen: Die Schwelle der geistigen Welt und Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, die als Taschenbuch praktischerweise in einem Band abgedruckt sind. (Für Liebhaber der gebundenen Bücher gibt es sie auch einzeln). Diese Texte sind zwar herausfordernd und man liest sie in kurzen Abschnitten am besten abends vor dem Schlafen. Man kann sie auch einige Abende wiederholen. Sie wirken durch die Nacht und auch wenn man nicht zur hellsichtigen Anschauung des Geschilderten kommt, erfüllt sich die Seele doch mit einem tiefen Vertrauen in die Wirklichkeit unserer wahren geistigen Heimat.
Sehr interessant ist der Vortragszyklus Die Geheimnisse der Schwelle (GA 147) den Rudolf Steiner in zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung der beiden genannten Schriften gehalten hat. Die folgenden Worte zeugen von Rudolf Steiners eigenen Erlebnissen: „Aber es ist eben etwas ganz anderes, mit vollem Bewußtsein sein Erinnerungs-Ich der Vernichtung, dem Vergessen, dem Abgrund anheimzugeben, wirklich eine Weile zu stehen in der geistigen Welt am Abgrund des Seins gegenüber dem Nichts als Nichts. Es ist das erschütterndste Erlebnis, das man haben kann, und man muß mit großem Vertrauen an dieses Erlebnis gehen. Um als Nichts an den Abgrund zu gehen, ist notwendig, daß man das Vertrauen hat, daß einem aus der Welt dann das wahre Ich entgegengebracht wird. Und das geschieht. Man weiß dann, wenn man am Abgrund des Seins dieses Vergessen zustande gebracht hat: Ausgelöscht ist alles, was du bisher erlebt hast, du hast es selbst ausgelöscht. Aber dir kommt aus einer Welt, die du selbst bis jetzt nicht erkannt hast, aus einer, ich möchte sagen, übergeistigen Welt dein wahres Ich entgegen, das in dem anderen Selbst nur noch eingehüllt war. – Jetzt erst begegnet man sich, nachdem man sich völlig ausgelöscht hat, mit seinem wahren Ich, von dem das Ich innerhalb der physischen Welt das Schattenbild, die Maja ist.“
Eine sehr besondere Beschreibung – natürlich ebenfalls aus eigenem Erleben – über das Durchdringen zum wahren inneren Menschen gibt Rudolf Steiner im 5. Vortrag des Zyklus Anthroposophie – Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren (GA 234). Dieser GA-Band ist ein Konzentrat der ganzen Anthroposophie, wie sie Rudolf Steiner in seinen letzten Lebensjahren noch einmal neu gegriffen hat. Malte Diekmann hat diese „neue“ Anthroposophie und ihren Schulungsweg wunderbar geschildert in Der Weg der Initiation.
Die Entwicklung des Ich als menschheitliche Aufgabe
Aus Rudolf Steiners Darstellungen wissen wir, dass die Entwicklung der menschlichen Wesensglieder immer zuerst von bestimmten Gruppen innerhalb der Menschheit vollzogen wird und dann als menschheitliche Errungenschaft an alle übergeht. Diese Entwicklungsschritte wurden bislang unter der den Menschen unbewussten Führung durch Erzengel (Volksgeister) vollzogen. Mit dem Beginn des Zeitalters der Bewusstseinsseele müssen alle weiteren Entwicklungen eben „bewusst“ vollzogen werden, also unter Beteiligung des menschlichen Ichs. Das Wirken der Bewusstseinseele führt aber ohne eine bewusste Gestaltung lediglich zu einem ungezügelten Egoismus. Gerade hier liegt die wichtigste Aufgabe des deutschsprachigen Kulturraums (Mitteleuropa).
Die geistigen Aufgaben Mittel- und Osteuropas ist das Buch von Sergej Prokofieff, dass ich wirklich jedem Menschen dringend empfehlen muss. Sergej beschreibt die geschichtlichen Etappen, in denen bislang die Seelenglieder für der Christus-Impuls vorbereitet wurden. Er verbindet dabei das Schicksal Mitteleuropas mit dem von Osteuropa (im wesentlichen Russland). Angesichts des Ukrainekriegs findet man in diesem Buch eine echtes Fundament, um sich nicht von der Propaganda egal welcher Seite einfangen zu lassen. Und hier wird deutlich, dass das eigene Ringen um das „Ich“ geistig gesehen absolut bedeutungsvoll ist. Wir sollten das ernst nehmen und solche Anstrengungen nicht für unnütz halten, bloß weil wir auf die kriegerischen Vorgänge äußerlich kaum Einfluss haben.
Dieses Buch führt direkt zur Frage: Was hat das Ich mit Christus zu tun. Ein von mir ebenfalls sehr geschätzter Autor (Frank Linde) hat hierzu wichtige Beiträge geleistet. In dem von ihm herausgegebenen Sammelband Wer ist Christus befasst sich einer seiner eigenen Beiträge des Bandes unmittelbar mit „Wer ist ICH?“, und nimmt auch Bezug auf Sergej Prokofieffs Darstellungen. In diesem Buch sind aus unterschiedlichsten Ansätzen – philosophisch, religiös, gesteswissenschaftlich – Aufsätze mit großer Tiefe versammelt, wunderbar geeignet für besinnliche Stunden in der Weihnachtszeit. Viele Stunden Lesezeit füllt auch Frank Lindes wertvolle dreibändige Untersuchung Die Auferstehung im Werk Rudolf Steiners, die er vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Sergej Prokofieff und Judith von Halle veröffentlicht hat. Ganz neu erschienen (ich konnte es noch nicht lesen) ist Jesus von Nazareth und das Geheimnis der nathanischen Seele. Mir scheint dieses Buch eine sehr gute Grundlage, sich mit dem zu beschäftigen, was Rudolf Steiner die „zweite Kreuzigung des Christus“ im 19. Jahrhundert. Die darauf folgende Auferstehung ermöglicht das Erscheinen des Christus im Ätherischen. Das Buch schildert den ganzen Prozess, von den Vorstufen, über die Vorgänge der Zeitenwende, den Entwicklungsschritten seither und unseren Anteil an den weiteren Entwicklungen.
Von der Geisteswissenschaft zur Lebenspraxis
Nach so vielen großen Themen ist es hohe Zeit, sich auf das eigene Tun zu besinnen. Der Weg der Selbsterkenntnis bis zum innersten Wesenskern geht nur über meditatives Üben. Aus der Fülle der Bücher zu diesem Thema habe ich zwei herausgegriffen. Dem Autor von Meditation in der westlichen Welt habe ich bereits persönlich begegnet und schätze seine zurückhaltende aber tief gegründete Haltung sehr. Karten Massei gibt in seinen Anregungen zur meditativen Arbeit auch seine eigenen Erfahrungen auf eine intime, berührende Weise. Vesöhnung mit dem inneren Menschen ist ein heilsam-heilendes Buch.
Vom Ich zur Gemeinschaft ist ein Buch, in dem Erfahrungen in der Gemeinschaftsbildung geschildert werden. Und zwar Gemeinschaftsbildung durch besondere Gesprächsformen unter Einbeziehung von geistigen Erfahrungen z.B. in der Natur und der Frage nach dem Karma der beteiligten Menschen. Hier wird konkret daran gearbeitet, was in den oben genannten Titeln als Aufgabe beschrieben wurde.
Auch der Titel Das Ereignis der Gemeinschaft behandelt konkret die Frage, wie menschliche Entwicklung in Zukunft noch möglich ist. Es beschreibt, wie die Individuelle Entwicklung an die Bildung einer zukunftsfähigen Gemeinschaft gebunden ist. Das eine ist ohne das andere nicht möglich und alles hängt am Willen der Menschen, die Entwicklung selber zu vollziehen.
Ich hoffe, ihr könnte mit diesen vielfältigen Anregungen etwas anfangen – und vielleicht gelingt es uns, Keime für eine künftiges menschliches Zusammenleben zu legen, das vom Willen zu einem liebevollen Miteinander getragen wird.